Die siebzig Sprachen
Rabbi Löb, Sohn der Sara, der wandernde Zaddik, erzählte: »Einmal war ich bei dem Baalschemtow über Sabbat. Gegen Abend vor der dritten Mahlzeit saßen schon die großen Schüler um den Tisch und warteten auf sein Kommen. Dabei unterredeten sie sich über einen Spruch des Talmuds, um dessen Bedeutung sie ihn befragen wollten. Es war der Spruch: ›Gabriel kam und lehrte Josef siebzig Sprachen.‹ Sie fanden ihn unverständlich; denn besteht nicht jede Sprache aus zahllosen Wörtern? Wie soll es da dem Verstand eines Menschen möglich sein, sie alle in einer einzigen Nacht, wie erzählt wird, zu erfassen? Die Schüler kamen überein, daß Rabbi Gerschon von Kitow, der Schwager des Baalschem, ihn darum befragen sollte. Als der Meister kam und sich zu Häupten des Tisches setzte, brachte Rabbi Gerschon die Frage vor. Der Baalschem begann eine Lehrrede; aber sie hatte anscheinend mit dem Gegenstand der Frage nichts gemein, und die Schüler vermochten daraus keine Antwort zu entnehmen. Plötzlich jedoch geschah etwas Unerhörtes und Unbegreifliches. Mitten in der Lehrrede klopfte Rabbi Jaakob Jossef von Polnoe auf den Tisch und rief mitten in die Lehrrede hinein: ›Türkisch!‹ Und nach einer Weile: ›Tatarisch!‹, und wieder nach einer Weile: ›Griechisch!‹, und so Sprache um Sprache. Allmählich verstanden ihn die Gefährten: er hatte aus der Lehrrede des Meisters, die scheinbar von ganz andern Dingen handelte, Quell und Wesen jeder einzelnen Sprache erkennen gelernt – und wer dich Quell und Wesen einer Sprache erkennen gelehrt hat, hat dich die Sprache gelehrt.«