Elternehrung
Einst lernte der Jehudi mit seinen Schülern in der Gemara. Eine Stelle machte ihn nachdenklich; schweigend vertiefte er sich in ihre Betrachtung. Unter den Schülern war ein Knabe, dessen Vater bald nach seiner Geburt gestorben war. Da er wußte, daß solche Unterbrechungen bei seinem Lehrer eine gute Weile währten, ging er eilig heim, um indessen seinen heftigen Hunger zu stillen. Als er schon auf dem Rückweg ins Lehrhaus war, rief ihm seine Mutter zu, er solle ihr zuvor ein schweres Heubündel vom Speicher heruntertragen. Er kehrte nicht um, denn er fürchtete, sich zu verspäten. Mittenwegs aber bedachte er sich: Der Sinn des Lernens ist ja das Tun. Sogleich lief er zurück und gehorchte seiner Mutter. Dann ging er wieder ins Lehrhaus. Sowie er über die Schwelle trat, erwachte der Jehudi aus seiner Betrachtung, erhob sich zur vollen Größe und sprach freudig zum Knaben: »Gewiß hast du in dieser Stunde die Mutter geehrt. Denn Abaji, von dem wir wissen, daß unter den Meistern der Gemara er allein weder seinen Vater noch seine Mutter kannte, und dessen Seele sich daher je und je denen einverleibt, die das Gebot der Elternehrung, der ihm versagten, erfüllen, ist mir soeben erschienen und hat mir die schwere Stelle gedeutet.«