Erzählungen

Bild aus "Die Erzählungen des Rabbi Nachman"

Die „Erzählungen der Chassidim“ entstammen dem Band „Chassidismus III“ (Martin Buber Werkausgabe, Band 18), herausgegeben, eingeleitet und kommentiert von Ran HaCohen, der demnächst im Gütersloher Verlagshaus erscheinen wird. © Gütersloher Verlagshaus, in der Verlagsgruppe Random House, Gütersloh/München

Dort und Da

Rabbi Uri lehrte: »Es heißt im Psalm: ›Wenn ich zum Himmel stiege, du bist dort, und bette ich mir die Unterwelt, da bist du.‹ Wenn ich mich groß dünke und meine, an den Himmel zu rühren, erfahre ich, daß Gott das ferne Dort ist und ferner, je höher ich mich hebe. Bette ich mich aber in der Tiefe und erniedrige meine Seele zur untersten Welt, ist er da, bei mir.«

Mensch und Mensch begegnen

Auf einer Fahrt erfuhr Rabbi Jehuda Zwi von Stretyn, daß Rabbi Schimon von Jaroslaw in der entgegengesetzten Richtung desselben Weges fahre. Er stieg aus dem Wagen und ging ihm entgegen. Aber auch Rabbi Schimon hatte von seinem Nahen gehört, war ausgestiegen und kam ihm 20 entgegen. Sie begrüßten einander brüderlich. Dann sprach Rabbi Jehuda Zwi: »Jetzt ist mir der Sinn des Spruchs aufgegangen:

Wohltun

Rabbi Mosche von Kobryn war der Sohn von Dorfleuten, die mit schwerer Arbeit ihr Leben fristeten. Als er ein Knabe war, kam eine Hungersnot über Litauen, die Armen schwärmten mit Weib und Kind aus den Städten übers flache Land, um sich Nahrung zu suchen. Auch durch das Dorf, in dem Mosches Eltern wohnten, zogen täglich Scharen Bedürftiger. Seine Mutter mahlte Korn auf einer Handmühle und buk

Wer nicht zu fragen weiß

Wenn der Kobryner in der Passah-Haggada die Stelle von den vier Söhnen las, die den Sinn der heiligen Bräuche zu erfahren begehren, und an 20 die Worte kam, die vom Jüngsten gesagt sind und den Hausvater also beraten: »Und wer nicht zu fragen weiß, eröffne du es ihm«, pflegte er innezuhalten und aufseufzend zu Gott zu sprechen: »Und wer, ach, nicht zu beten vermag, tu du ihm sein Herz auf,

Vielleicht

Einer der Aufklärer, ein sehr gelehrter Mann, der vom Berditschewer gehört hatte, suchte ihn auf, um auch mit ihm, wie er’s gewohnt war, zu disputieren und seine rückständigen Beweisgründe für die Wahrheit seines Glaubens zuschanden zu machen. Als er die Stube des Zaddiks betrat, sah er ihn mit einem Buch in der Hand in begeistertem Nachdenken auf und nieder gehen. Des Ankömmlings achtete

Die Äpfel

Eine arme Äpfelhändlerin, deren Stand nah am Hause Rabbi Chajims war, kam einst klagend zu ihm: »Unser Rabbi, ich habe noch kein Geld, um für den Sabbat einzukaufen.« »Und dein Äpfelstand?« fragte der Zaddik. »Die Leute sagen«, antwortete sie, »meine Äpfel seien schlecht, und wollen keine kaufen.« Sogleich lief Rabbi Chajim auf die Gasse und rief: »Wer will gute Äpfel kaufen?« Im Nu

Gedenken und Vergessen

Am Tag des Neuen Jahrs sprach Rabbi Jehuda Zwi von Rozdol: »Wir haben heute gebetet: ›Alles Vergeßnen gedenkst du von Ewigkeit her.‹ Was haben wir damit gesagt? Gott will nur dessen gedenken, was der Mensch vergißt. Wenn einer das Gute tut und das Getane nicht im Sinn hält, sondern nichts vollbracht zu haben weiß, seines Dienstes ist Gott eingedenk. Redet aber einer zu seinem erhobenen Herzen:

Elternehrung

Einst lernte der Jehudi mit seinen Schülern in der Gemara. Eine Stelle machte ihn nachdenklich; schweigend vertiefte er sich in ihre Betrachtung. Unter den Schülern war ein Knabe, dessen Vater bald nach seiner Geburt gestorben war. Da er wußte, daß solche Unterbrechungen bei seinem Lehrer eine gute Weile währten, ging er eilig heim, um indessen seinen heftigen Hunger zu stillen. Als er schon auf

Der Hirt

Eine Zeit nach dem Tod des Jehudi wußten die Schüler noch nicht, wen sie sich zum Meister erwählen sollten. Sie fragten Rabbi Bunam um Rat. Er sprach: »Ein Hirt weidete die Schafe am Feldrain. Ermüdet fiel er zur Erde und schlief ein. Das war ihm noch nie geschehen. Um Mitternacht erwachte er, der Vollmond stand hoch, die Nacht war kühl und klar. Der Hirt trank einen Schluck Wasser vom Bach;

Die Erzählung, die erzählt wurde

Rabbi Bunam erzählte: »Einmal, unterwegs, nah bei Warschau, empfand ich, ich müsse eine Geschichte erzählen. Die Geschichte war aber weltlicher Art, und ich wußte, sie würde unter den vielen Leuten, die sich um mich versammelt hatten, nur Lachen erregen. Der Böse Trieb redete mir heftig ab: ich würde all die Leute verlieren, denn wenn ich die Geschichte erzählte, würden sie mich nicht mehr